Anade - und seine Folgen
Anade kann man wörtlich übersetzen mit: Die Kraft (a:) schmerzt (na) + Zeitmarker-Partikel = Beeinträchtigung! Sehr oft hört man von Burmesen die Formulierung: A: ma. na ba ne. – es bedeutet: Genieren sie sich nicht, greifen Sie zu! (z. B. während des Essens). Es hat zahlreiche Versuche – zumal von Ausländern – gegeben, dieses Phänomen in Worte zu fassen, aber es kamen nie mehr als Teilwahrheiten heraus. Anade umreißt den gesamten Komplex von Normen und Gefühlen, der das Zusammenleben der Menschen regelt – ähnlich wie in den Nachbarländern, seien sie nun buddhistisch oder islamisch, z. B. das Adat in Indonesien. Sarah M. BEKKER hat einen Aufsatz (The concept of Anade) über dieses Thema geschrieben und fasst folgende Hauptelemente zusammen:
- respektvolles Verhalten, besonders gegenüber ranghöheren Personen (Ältere, Mönche usw.), das sich vor allem auf der sprachlichen Ebene manifestiert …
- Unvermögen, die eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen oder die Wünsche anderer zu ignorieren …
- Das Bemühen, sich niemandem aufzudrängen, lästig zu fallen oder gar anderen Personen Unannehmlichkeiten zu bereiten …
- Beherrschung aggressiver Gefühle und die Angst davor sowie das Bemühen auf jeden Fall zu vermeiden, dass andere lächerlich gemacht oder beschämt werden …
- Angemessenes Verhalten entsprechend dem eigenen Status in jeder Situation …
- Ausgeglichenheit der Verpflichtungen, Befürchtungen und Sorge, eigenen Verpflichtungen nicht nachkommen zu können …
- Sensibilität für die Bedürfnisse anderer …
Die Folgen dieses Komplexes an Verhaltensweisen sind vielfältig und nicht frei von Konflikten.
Die Bedeutung von Anade ändert sich mit dem Status der handelnden Personen. Wenn sie nicht gleichrangig sind, wird es sich auf Seiten des Niederrangigen in Form von Respekt und Ehrerbietung äußern, was dazu führt, dass die Person versuchen wird, ihr Spontanverhalten zu kontrollieren, ein angemessenes Verhalten hinsichtlich Sprache usw. an den Tag zu legen, kurz, sich ‚anständig‘ zu verhalten – was von Landesfremden manchmal als kriecherisches Verhalten interpretiert wird …
Wenn Anade zwischen guten Bekannten oder Freunden wirksam wird, kann es eine Intensität erreichen, die über seine normale Funktion als Unterstützung höflichen Umgangs weit hinaus geht …
Das Konzept Anade wird mittlerweile selbst von Burmesen gelegentlich kritisch betrachtet. Was auf Dorfebene in alten Zeiten gut funktionierte und das Zusammenleben erleichterte, versagt in vielerlei Hinsicht, wenn größere Menschenmengen in der modernen Gesellschaft miteinander leben und kommunizieren …
Ein Militäroffizier (!) gab folgendes zu Protokoll: „We want to get rid of anade. We translate it as lack of moral courage. We want to bring up a new generation with moral courage – not to be ashamed to speak out” …
BEKKER zieht sogar Schlüsse für die auswärtigen Beziehungen des Landes daraus: In der internationalen Gemeinschaft sieht sich ein Burmese als ein Fremder, kein Teil des Ganzen. Da er die Absichten und Erwartungen anderer nicht abschätzen kann, ist es das Klügste, sich herauszuhalten. So war die extreme außenpolitische Neutralität unter dem Ne-Win-Regime, die letztendlich zum Austritt aus der Bewegung der blockfreien Staaten führte (s. o.), letztlich die Manifestation eines psychologischen Zustandes, der im Privatleben als Anade zutage tritt. COURTAULD (s. o.) nannte es treffend ‚… höfliches Desinteresse an der Außenwelt …‘!