Die Geschichte von Jürgen Voss
Jürgen Voss war ein Deutscher, der wie viele andere Ausländer – unter anderen ich selbst – Mitte der 90er-Jahre nach Myanmar kam. Damals öffnete sich das Land gerade zögerlich. Gerüchten zufolge war er früher im renommierten Oriental Hotel in Bangkok als F&B-Manager tätig gewesen. Er übernahm das neu erbaute Kandawgyi Hotel in Yangon. Aus mir nicht bekannten Gründen beendete er seine Tätigkeit dort und wurde Direktor des gerade eröffneten Old Bagan Hotel in der gleichnamigen Stadt. Jürgen war eher dem eigenen Geschlecht zugetan und einer der nettesten Menschen, denen ich in meiner Wahlheimat begegnet bin. Er hatte ein Händchen für Dekoration und Einrichtung und machte aus dem – streng betrachtet – besseren Bretterbuden-Hotel hinter dem wunderschönen Gawdawpalin-Tempel eine echte Perle. Dessen Prunkstück war zweifelsfrei der riesige Garten, in dem auch die Mahlzeiten serviert wurden. Auf dem Gelände des Hotels befinden sich zwei Tempel aus der Bagan-Zeit, die er wundervoll in das Ensemble integriert hatte. In den riesigen alten Bäumen hingen weiße Papierlampions. Allgemeines „Ahhh“ und „Ohhh“, wenn Besucher zum ersten Mal in den Garten kamen.
Wenn viele Gäste im Hotel waren, arrangierte Jürgen seine berühmte, spektakuläre Show! Plötzlich ging das Licht aus und das Klappern der Bestecke und die Gespräche hörten schlagartig auf! Dann erklang klassische Musik (z. B. die Ouvertüre aus Tannhäuser). Und ca. zwanzig halb nackte Fackelträger mit eingeölten, glänzenden Oberkörpern schälten sich langsam aus dem Dunkel. Einige von ihnen erklommen die Dächer der Tempel und standen dort unbeweglich wie Statuen zur Musik. Eine wahrhaft gelungene Choreografie! Man kam sich vor wie in einem Sandalenfilm der 60er-Jahre. So etwas konnte in Myanmar nur der Jürgen! Das Hotel genoss einen Ruf wie Donnerhall, trotzdem es im Vergleich zur Konkurrenz eher bescheiden wirkte. Ausschließlich Jürgens Verdienst! Wenn prominente Gäste nach Bagan kamen, gab es nur eine Wahl: Das Old Bagan Hotel! Unter anderen war Mick Jagger dort einmal zu Gast. Jürgen wusste zu berichten, dass der Rockstar darauf bestand, dass die Suite, in der er mit seiner weiblichen Begleitung wohnte, völlig mit schwarzen Tücher verkleidet sein sollte. Auch die Fenster. „Du weißt ja, wie exzentrisch solche Leute sind …“ sagte er mir kurze Zeit später. Leider verpasste ich das Idol meiner jungen Jahre um ein paar Tage. Aber meine damalige Freundin hat ihn getroffen. Wie sie mir berichtete, sah sie im Restaurant einen kleinen Mann, der aussah wie Mick Jagger.
Sie fragte Jürgen: „Was ist das denn für ein Spinner, der Mick Jagger imitiert?“. – „Das ist Mick Jagger!“ antwortete er. Später stellte sich heraus, dass Jagger ein netter Kerl war, mit dem sich gut plaudern ließ. Was ihm denn in Myanmar am besten gefallen habe, fragte sie ihn. „Dass ich über die Straße gehen kann, ohne dass mich alle angaffen!“ war die Antwort.
Leider hatte Jürgen neben der klassischen Musik noch eine weitere Leidenschaft – Alkohol! Der früher so elegante Mann legte in seinen späteren Jahren mehr und mehr an Gewicht zu und verfiel zusehends. Das Ende war absehbar und schließlich starb er! Wie mir einer seiner Manager unter Tränen erzählte, wollte Jürgen zum Dinner im Garten kommen. Doch man wartete vergebens. Sie nahmen an, dass er eingeschlafen sei, und gingen zu seiner Suite, um ihn zu wecken. Keine Antwort. Da schwante ihnen Schlimmes und sie öffneten die Tür. Im Badezimmer fanden sie ihn! Entsetzen! Sie hoben ihn auf, legten ihn aufs Bett und riefen einen Arzt. Der konnte nur noch den Tod bestätigen. Seine Asche wurde in Lugano beigesetzt und wenn ich gelegentlich dort vorbeifahre, muss ich an ihn denken. Möge er in Frieden ruhen!