Buddhismus 6 - der Palikanon
Als Pali-Kanon bezeichnen wir das buddhistische Schrifttum der Theravada-Länder (Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha). Kanon übersetzt man am besten mit ‚Verzeichnis der heiligen Schriften‘. Pali ist, wie schon erwähnt, die ‚Kirchensprache‘ Sprache des Theravada-Buddhismus. Eine andere Bezeichnung für Pali-Kanon ist tipitaka. Wie kommt dieser Name zustande? Pitaka bedeutet Korb und ti (Sanskrit: tri) drei. Daher spricht man im Deutschen gern vom Dreikorb. Warum nun drei Körbe?
Nachdem die Lehrreden Buddhas (sutta) und die Ordensregeln (vinaya) jahrhundertelang nur mündlich überliefert wurden, gab ein König von Sri Lanka im
1. Jahrhundert B. C. den Befehl, die Überlieferung schriftlich (in Pali) festzuhalten. Dies geschah in einer Höhle namens Alu Vihara (siehe Foto). Ein Grund dafür war sicher die Befürchtung, dass die Lehre im Laufe der Zeit durch Überlieferungsfehler verfälscht werden könnte. Im Verlauf von fast 400 Jahren hatten die Mönche neben den altüberlieferten suttas und vinayas auch ein beachtliches scholastisches Wissen (Scholastik kann man am besten mit Schulweisheit übersetzen) angesammelt: Dieses war also nicht von Buddha selbst oder seinen zeitgenössischen Ordensbrüdern überliefert worden. Es wird unter dem Namen abhidhamma (wörtlich: besondere Lehre) zusammengefasst.
Die Texte der suttas, vinayas und des abhidhamma wurden seinerzeit auf Palmblättern niedergeschrieben und in althergebrachter Weise gebunden (noch heute in Myanmar unter dem Namen pesa bekannt). Zu jener Zeit bewahrte man die Palmblattmanuskripte in Körben auf – eben jenen pitakas! Die Textsammlung war so umfangreich, dass sie auf deren drei verteilt werden musste:
Der erste Korb (vinaya pitaka) enthielt Berichte über die Entstehung der Mönchsgemeinde (sangha) sowie die Disziplinarregeln, die das Zusammenleben der Mönche regeln.
Der zweite (sutta pitaka) umfasste die Lehrreden, die aus dem Munde Buddhas oder seiner unmittelbaren Schüler stammen sollen – sie sind in fünf Sammlungen (nikayas) angeordnet.
Der dritte (abhidhamma pitaka) schließlich enthält die scholastischen Texte. Im burmesischen Buddhismus wird dem dem dritten Korb der Lehre (Abhidhamma) erheblich mehr Gewicht beigemessen als in den anderen Theravada-Ländern.
In engem Zusammenhang mit dem Pali-Kanon stehen die buddhistischen Konzile: Allgemein anerkannt sind vier, allerdings gibt es auch hier Widersprüche, so z. B. über das 3. Konzil.
Einhundert Tage nach dem Tod Buddhas trafen sich seine Mönche nahe Rajagriha – so berichtet es die Legende – zum 1. Konzil: Sein Neffe Ananda rezitierte die Lehrreden des Meisters (sutta), Kassapa, der Älteste unter ihnen, die Ordensregeln (vinaya). Niedergeschrieben wurde offenbar nichts, die Überlieferung mündlich.
Das 2. Konzil ist in der Literatur besser belegt. Es fand etwa hundert Jahre nach Buddhas Tod in Vesali statt (allerdings sicherlich nicht in der gleichnamigen Stadt in Rakhine, denn die wurde erst viel später begründet). Grund für seine Einberufung waren offenbar disziplinäre Uneinigkeiten. Möglicherweise wurde damals der Grundstein für die Spaltung in Theravada und Mahayana gelegt.
Beim 3. Konzil waren vermutlich nur Anhänger der Pali-Schule vertreten. Es fand um 244 B. C. in Pataliputra (heute Patna) statt und wurde möglicherweise von Kaiser Ashoka einberufen. Eines der Ergebnisse dieses Konzils war eine große Missionskampagne: Buddhistische Missionare besuchten die Nachbarländer Indiens – zu dieser Zeit kamen möglicherweise die Mönche Sona und Uttara in das Mon-Land Suvannabhumi (heutiger Süden von Myanmar?). Einige stießen sogar bis nach Ägypten und Griechenland vor! Allerdings konnte sich der Buddhismus nur in Sri Lanka durchsetzen – daher der Anspruch der dortigen Buddhisten, die wahre Lehre zu vertreten.
Das 4. Konzil schließlich wurde im Nordwesten Indiens unter der Herrschaft des Kushan-Kaisers Kanishka (2. Jahrhundert A. D.) abgehalten und hat sich offenbar vornehmlich mit einer Neuinterpretation von Teilen des abhidamma befasst.
Damit endet die Reihe der allseits anerkannten Konzile. Wie wir aber alle wissen, werden in Myanmar deren sechs gezählt! Der burmesische König Mindon rief in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts A. D. zahlreiche Gelehrte in seine neue Hauptstadt Mandalay. Burmas Premierminister U Nu tat es ihm 1956 gleich. In der zu diesem Zweck erbauten Kaba Aye Pagode in Yangon kam es zu einem großen Treffen der Schriftgelehrten. Diese beiden Zusammenkünfte werden hierzulande zu den alten vier Konzilen hinzugezählt – eine Praxis, die nicht überall in der buddhistischen Welt zur Kenntnis genommen wird.
Wie auch immer: Mindons Gründe für die Einberufung eines Konzils nach mehr als sechzehn Jahrhunderten waren sicher nicht zuletzt politischer Natur. Damals drohte ganz Asien unter die Herrschaft der europäischen Kolonialmächte zu fallen, und da lag es nahe, die gemeinsame Religion als einigendes Band zu nutzen! Politische Gründe mögen auch U Nu bewegt haben.
Allseits anerkannt oder nicht – wo ließe sich der Pali-Kanon und die Geschichte der Konzile besser darlegen als im Kuthodaw-Tempel in Mandalay?