Sangermano und Orwell
In der zweiten Gruppe, unter den ‘Burma-Hassern’, steht ‚Father‘ SANGERMANO an erster Stelle. Er war ein italienischer Barnabitermönch, der 1783 in Myanmar ankam und 1808 in sein Heimatland zurückkehrte. Sein Aufenthalt diente der (wenig erfolgreichen) Bekehrung der Burmesen zum Christentum und fiel in die Regierungszeit König Bodawhpayas (regierte 1782-1819). Unter ihm stand die Konbaung-Dynastie (1752-1885) auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Seine Eindrücke und Erinnerungen wurden 1884 unter dem Titel: The Burmese Empire a hundred years ago veröffentlicht. Sie sind so negativ, dass kaum ein Buchautor darüber hinweg geht. Daher darf er auch hier nicht fehlen … Das Buch enthält eine ausführliche Beschreibung Myanmars durch den der burmesischen Sprache kundigen Italiener. Leider ist es dem guten Pater bei aller Sachkenntnis nicht gelungen, sich in das Wesen der Burmesen einzufinden. Im Kapitel ‚Die Bewohner des burmesischen Reiches‘ charakterisiert er sie wie folgt:
Unterwürfigkeit und kriecherisches Verhalten gegenüber Höhergestellten sowie eine allumfassende Angst vor diesen sind kennzeichnend für sein Wesen …
Ein weiterer Charakterzug des Burmesen ist seine unheilbare Faulheit …
Es scheint, dass es dem Burmesen einfach nicht möglich ist, die Wahrheit zu sagen …
Immerhin konzediert er, dass es ‚…auch ehrenwerte Personen gibt, deren Freundlichkeit, Höflichkeit und Gutmütigkeit in starkem Kontrast zu dem bösartigen Charakter ihrer Mitmenschen steht.
Shway Yoe (s. o.) vermutet, dass der gute Pater einfach keine glückliche Hand bei der Auswahl seiner Bekanntschaften hatte.
Für mich sind solche Aussagen eine Manifestation dessen, was geschieht, wenn man eine Gesellschaft, die nach ganz anderen Maßstäben funktioniert als die eigene, mit deren Maßstäben misst. Leider hat sich an dieser Sichtweise bis heute nicht viel geändert, wie man den zahllosen Artikeln und Büchern entnehmen kann, die sich mit Myanmar auseinander setzen.
George ORWELLs ‚Burmese Days‘ gehört seit jeher in das Gepäck jedes anständigen Reisenden in Burma. Damals, Ende der 70er-Jahre, war ich – wie viele andere auch – nach dessen Lektüre noch der Meinung, dass ORWELL dieses Buch aus Sympathie für das Land schrieb. Hier hatte er fünf Jahre als Polizeioffizier gedient, bevor er aus dem Dienst ausschied und sich seiner Karriere als Schriftsteller widmete. Dass ihm die Burmesen genau so auf die Nerven gingen wie die britischen Kolonialherren, wollte ich in meiner Begeisterung für das Land nicht wahrhaben. Man fragt sich bei der Lektüre des Buches manchmal, wen ORWELL mehr verachtet: seine Landsleute oder die Einheimischen?
Sei’s drum, ich war nach der Lektüre von Burmese Days besessen von der Idee, dass Ma Hla May, die Freundin von Flory, dem tragischen Helden des Romans, noch leben müsse. Die Geschichte spielt ja Ende der 20er-Jahre, und fünfzig Jahre später müsste Daw Hla May eine rüstige Mittsiebzigerin sein. In der Nähe des Zegyo-Marktes in Mandalay aß ich eines Abends gerade ein paar Samosas, als mir an einem Nebentisch eine alte Frau auffiel. Sie saß in einer Gruppe alter Weiber, in der sie das große Wort führte. Sie rauchte Zigarre – genau wie Hla May – sprach in einer lauten, ordinären Art und Weise, gelegentlich unterbrochen von einem heiseren Lachen. Das musste sie sein – Hla May saß leibhaftig vor mir! Literatur wurde lebendig! Ich bat sie an meinen Tisch und quetschte sie mit Hilfe meines einheimischen Begleiters aus. Jedoch – es half alles nichts! Sie war es nicht! Und meine Begegnung mit der großen Literatur fehlgeschlagen!